Unser Objekt des Monats ist dieses Mal kein physisches Objekt, sondern eine historische Skurrilität: Nach dem Waffenstillstand von 1918 besetzten amerikanische, britische und französische Truppen deutsches Gebiet westlich des Rheins und begannen, die einzelnen Gebiete in Besatzungszonen aufzuteilen. Dabei wurden drei halbkreisförmige Brückenköpfe mit einem Radius von 30 km um Köln (britische Zone), Koblenz (amerikanische Zone) und Mainz (französische Zone) errichtet. Das Kriegsende kam für die Alliierten schneller als erwartet und so sah man sich aufgrund der drängenden Zeit genötigt, eine rasche Aufteilung in die Besatzungszonen vor – und ein paar Ungenauigkeiten in Kauf zu nehmen.

Ausschnitt mit einer Detailansicht des „Freistaates Flaschenhals“ aus der Karte von Rheinland und Westfalen und den angrenzenden Ländern mit Angabe des besetzten Gebietes und der neutralen Zonen (1918) (Bild: Archiv Wilfried Radloff)
Nachdem die Besatzungsmächte die von ihren Brückenköpfen ausgehenden Straßen besetzten und provisorische Grenzen errichteten, wurde deutlich, dass am rechten Rheinufer ein enger, unbesetzter Korridor in der Französischen Besatzungszone übrigblieb. Dieser erstreckte sich am Rhein von Kaub bis Lorch und reichte bis nach Limburg an der Lahn. Insgesamt waren 12 Orte betroffen. Dieses „Missgeschick“ ließ sich aber so schnell nicht lösen, dafür waren die Verhandlungen der Alliierten zu zeitaufwändig und diplomatisch kompliziert gewesen.
Für die Menschen in diesem Gebiet in Form eines Flaschenhalses aber hatte das enorme Auswirkungen: Umgeben von den beiden alliierten Brückenköpfen und dem Rhein im Südwesten war diese kleine Region effektiv vom Rest Deutschlands und der Verwaltung der Weimarer Republik getrennt, da an dieser Stelle keine Straße über den Taunus führte. Am 10. Januar 1919 proklamierte der Bürgermeister von Lorch, Edmund Anton Pnischek, den „Freistaat Flaschenhals“, dessen erster und einziger Präsident er wurde – eine enorme Statussteigerung, nebenbei gesagt. Seine Stadt Lorch avancierte zur Hauptstadt. In Kaub und Lorch wurde Notgeld gedruckt. Dieses aber konnte nur bedingt helfen, da man auf den Warenstrom aus den umliegenden Regionen angewiesen war, der aber, aufgrund des neuen Status, nicht so leicht zu bekommen war.

50-Pfennig-Notgeldschein aus dem Freistaat Flaschenhals. Gezeigt werden auf dem Schein die beiden von den Alliierten besetzten Gebieten (USA links und Frankreich rechts) und dazwischen das Gebiet des „Freistaats Flaschenhals“ (1919-1923) (Bild: gemeinfrei).
So behalf man sich, um die benötigten Waren zu bekommen, des Schmugglerwesens. Kaub, Lorch und die anderen Orte am Rhein kam dabei eine Schlüsselrolle zu und allerlei abenteuerliche Aktionen sind bekannt, in denen die Schmuggler, häufig sehr jungen Alters, den französischen Soldaten ein Schnäppchen schlugen und – sich der Autonomie des Freistaats bewusst – diese sogar bewusst zu ärgern suchten (ein Präsentieren der nackten Hinterteile war wohl ein häufigeres Phänomen). Die Schaffung staatlicher Strukturen ging sogar so weit, dass man eine eigene Botschaft in Berlin ebenso plante wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Dazu aber kam es nicht: Am 23. Februar 1923, also nach vierjähriger Existenz, wurde der Freistaat Flaschenhals im Zuge der Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich abgeschafft. Edmund Pnischek wurde verhaftet und das Gebiet wieder in die Provinz Hessen-Nassau eingegliedert.

Edmund Pnischek, Bürgermeister von Lorch und Präsident des Freistaats Flaschenhals (Bild: Freistaat-Flaschenhals-Initiative)
Diese vier Jahre als Freistaat haben sich ins Bewusstsein der Menschen in der Region gebrannt. 1994 wurde die Freistaat-Flaschenhals-Initiative von Gastronomen und Winzern um Kaub gegründet, um an das Ereignis zu erinnern. Aufgrund seiner Bedeutung haben wir daher gemeinsam mit unseren Partner:innen im Teilprojekt Kaub den Freistaat Flaschenhals in unsere Objektliste mitaufgenommen und in der Historikerin Stephanie Zibell eine sachkundige Forscherin für die Erstellung des Beitrags gewinnen können. Und so erzählt Peter-Josef Bahles aus Kaub, Begründer der Initiative Flaschenhals, in einem Videointerview von diesem historischen Kuriosum und einer typischen Anekdote im Kontakt mit den umliegenden besetzten Gebieten:
Neben dem Objekt zum Freistaat Flaschenhals wurden 2023 im Teilprojekt Kaub zahlreiche Objekte zu historischen Berufen, konkret zu den Themen Dachschieferbergbau, Weinbau, Schiffer- und Lotsenwesen produziert und in KuLaDig unter dem Ortsbeitrag Stadt Kaub verfügbar gemacht.
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