Objekt des Monats November: Zollhaus am Sankt Germanshof

Am 6. August 1950 trauten die diensthabenden Zollbeamten im Zollhaus am Sankt Germanshof, im kleinen südpfälzischen Ort Bobenthal, ihren Augen nicht. Überraschend traten sowohl von deutscher, als auch von französischer Seite massenhaft junge Menschen an die Zollstation. Der ersten Schrecken wich der Ratlosigkeit, denn gefährlich sahen die Herankommenden nicht aus, eher wie Studierende. Auch Reporter waren anwesend und verfolgten begeistert die Aktion. Wie aber sollten die Beamten reagieren? Wie sollte die Ordnung aufrechterhalten und der unerlaubte Grenzübergang verhindert werden? Die überforderten Beamten beließen es dabei den Vorgesetzten Meldung zu machen und Verstärkung anzufordern, ansonsten waren sie sich der Sinnlosigkeit jedes restriktiven Eingreifens bewusst. „L’Europe est presente“, „Wir fordern Europa“ und „Stürmt die Bastille Nationalstaat“ stand auf den Plakaten der Aktivisten und – wenn auch friedlich, doch aber mit einigem Enthusiasmus – bemächtigten sie sich des Zollhauses und des Schlagbaumes.

Teilnehmende des Studentensturms im Jahre 1950 (Bild: .citizens-4-europe.eu)

Diesem Symbol der Trennung, des Nationalstaates, wurde nun mit Sägen und allerlei Werkzeug zu Leibe gerückt. Er wurde aufgebäumt, es wurde an ihm gerissen, gesägt und gebogen. Es dauerte eine Weile, dann gab das Holz nach, der Schlagbaum zerbrach unter Jubelrufen. Zeitgleich wurde auf der französischen Seite ebenfalls die Grenze gestürmt und der Schlagbaum demontiert. Den gemeinsamen Treffpunkt bildete die nahegelegene Wiese. Auf ihr wurden die Schlagbaumteile aufgeschichtet und in Brand gesetzt.

Unter den Anwesenden war auch André Philip (1902-1970), französischer Minister für Wirtschaft und Finanzen (1946-1946 und 1946-1947) und Vorgänger sowie Nachfolger von Robert Schuman (1886-1963). Philip hielt eine Rede, in der er unter anderem „den Idealismus der anwesenden jungen Europäer“ lobte. Auch Michel Mouskhély und Marcel Mille hielten eine Rede. Eine Proklamation mit zehn Forderungen wurde verlesen in der es beispielsweise hieß: „Wir verlangen das europäische Bürgerrecht“ und „Wir verlangen die Bildung eines europäischen Parlaments und einer europäischen Regierung.“ Dann verließen die Aktivisten den Ort des Geschehens, noch bevor die Grenzverstärkung eintraf.

Das Ereignis war am nächsten Tag weltweit in den Nachrichten und gewann internationale Aufmerksamkeit, insbesondere, weil der Zeitpunkt dieser im Geheimen geplanten Aktion (quasi ein früher Flashmob) – am nächsten Tag fand eine Sitzung des Europarates in Straßburg statt – so passend war.

Der Ort des Geschehens, das einstige Zollhaus am Sankt Germanshof, ist heute eine Erinnerungsstätte (Bild: KuLaDig-RLP)

Mittlerweile hat sich die Vision der Teilnehmenden bewahrheitet: Das Zollhaus am Sankt Germanshof dient heute nicht mehr als Grenzort zweier Nationalstaaten, sondern als Erinnerungsort an die Aktion, die als „Studentensturm“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Auf der nahegelegenen Wiese, auf der die Proklamation verkündet wurde, erinnert zudem das Europadenkmal an dieses Ereignis und die frühen proeuropäischen Bestrebungen.

Zollhaus und Europadenkmal besitzen auch für aktuelle deutsch-französische und europäische Begegnungen Strahlkraft (Bilder: Markus Keller, Bobenthal)

Im Rahmen unseres Teilprojekts Bobenthal aus dem ersten Projektjahr wollten wir genau diese Spannung – ein Dorf in unmittelbarer Nähe zur Grenze – beleuchten. Denn der kulturelle Austausch ließ sich auch in den Jahrhunderten zuvor nicht durch die Grenze aufhalten. Sein Geist lässt sich in Bobenthal nicht nur am ehemaligen Zollhaus oder am Europadenkmal nachspüren.

Da besonders die Menschen in Bobenthal durch diese besondere Situation geprägt wurden, produzierten unsere Studierenden gemeinsam mit dem kommunalen Team verschiedene Zeitzeugeninterviews zu ganz verschiedenen Aspekten des Ortslebens an der deutsch-französischen Grenze.

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